In den 1970er-Jahren galt in Österreich der Seeadler – das Wappentier der Republik – als der Heilige Gral der Tierfotografen.
Es gab schon lange keine brütenden Paare mehr im Land, nur im Hochwinter tauchten entlang der Donau halbwegs regelmäßig einige wenige Adler aus nördlicheren Gegenden auf, um hier nach Aas Ausschau zu halten und um nach Wasservögeln und Fischen zu jagen.
Wenn man das Glück hatte, einen von ihnen zu erblicken, dann nur aus weiter Entfernung, hoch oben im Himmel als Silhouette oder als schwarzer Fleck vor einer weißen Schneelandschaft. Seeadler-Fotos zeigten in jenen Tagen ausnahmslos und bestenfalls schwarze Vögel vor weißem Himmel.
Unter der halben Handvoll Tierfotografen, die damals die Auen unterhalb von Wien durchstreiften, lief ein Wettbewerb: Wer schafft es als erster, einen Seeadler deutlich sichtbar am Boden sitzend auf das Bild zu kriegen?
Die Meister aller Klassen waren seit den 1950er-Jahren Franz Antonicek und Norbert Sendor – beide aus dem dritten Wiener Gemeindebezirk, aus Erdberg.
Die junge Garde bestand aus dem ambitionierten Josef Hadrigan aus Kagran und dem trickreichen Leopold Popelinsky aus Floridsdorf. Allesamt waren sie Mitglieder in Anton Kleins Aquarien- und Naturschutzverein, dem späteren „Lobaumuseum“.
Antonicek war vom Auftreten her klar die Nummer eins. Sein enger Freund Norbert Sendor agierte eher zurückhaltend. Die Seeadler waren ein unerschöpfliches Gesprächsthema.
Als Franz Antonicek einmal triumphierend mit einem aus enormer Entfernung geschossenen Foto eines in den Lüften kreisenden Adlers auftauchte, hielt ihm der junge Josef Hadrigan provokant und mutig vor, dass der Seeadler auf dem Schwarzweißfoto ja in Wahrheit gar kein Seeadler sei, sondern bloß eine Verunreinigung am Fotoobjektiv. Antonicek sah das naturgemäß anders.
Das ging so jahrelang hin und her – bis Norbert Sendor an einem eiskalten Morgen das große Los zog.
Hier – in eigenen Worten – seine Geschichte:
„Es war am Sonntag, den 28. Dezember 1975, einem wunderschönen, aber eiskalten Wintertag, als ich in der Gegend von Schönau, genauer gesagt über der Schwadorfer Rinne, einen jungen Seeadler beobachten konnte und ich rechnete mir Chancen auf ein Foto aus.
Der Franzi (Antonicek) und ich hatten zu jener Zeit eine vom damaligen Revierleiter, dem Oberförster Wimmer, tolerierte Fotodeckung an der Baumeisterlacke.
Weil der Franzi aber verkühlt war, machte ich mich in der Nacht auf den 29sten allein mit dem Fahrrad auf den Weg: von der Rustenschacherallee im Prater, wo ich damals wohnte, nach Schönau – mehr als zwanzig Kilometer.
Es war bitterkalt, es herrschte dichter Bodennebel und extremes Glatteis. Ich fuhr unfallfrei bis zum Schönauer Wasser, wo knapp vor der Einmündung in die Donau einige große Fischkalter lagen.
(Fischkalter = hölzernes Aufbewahrungsbecken für Lebendfische nach dem Fang und vor dem Verzehr)
Am Vortag konnte ich beobachten, wie der Mannsdorfer Bürgermeister Herbert Mayer und seine Leute mit Schleppnetzen die Ausstände und die Buchten am Strom ausfischten.
Somit stand fest: In den Kaltern sollten zumindest jede Menge Weißfische zu finden sein.
Ich „borgte“ mir dort also vier mittelgroße Nerflinge aus. Bis heute habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich sie damals nicht zurückgeben konnte.
Wie ich es geschafft habe, die Fische in finsterer Nacht und bei eisiger Kälte aus dem Kalter zu entnehmen, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls waren sie in kürzester Zeit stocksteif gefroren.
Mit den Nerflingen im Gepäck fuhr ich zur Baumeisterlacke, öffnete das Eisloch, das wir zum Anlocken diverser Wasservögel vor unserer Deckung angelegt hatten und legte mich bei völliger Dunkelheit, es war etwa sechs Uhr früh, auf die Lauer. Dann begann das Warten.
Durch den extremen Bodennebel wurde es selbst bei Tagesanbruch nicht so richtig hell. Um etwa neun Uhr früh tauchten ein Silberreiher und zwei Graureiher auf und setzten sich neben den gefrorenen Fischen auf das Eis.
Nach einiger Zeit hörte ich ein eigenartiges Geräusch, das ich nicht definieren konnte. Ansonsten war es rundum totenstill. Als das Geräusch immer näherkam, sah ich den Verursacher. Es war ein Seeadler, der über das Eis lief – und das seltsame Geräusch mit seinen Krallen verursachte.
Zu Fuß wirkte der Vogel in keiner Weise majestätisch. Der Adler rutschte er immer wieder aus und versuchte, mit tollpatschigen Bewegungen verzweifelt das Gleichgewicht zu halten. Ich schoss ein Foto nach dem anderen. Bald war klar, was er hier tat: Er versuchte vergeblich Fische zu fangen, die er unter der glasklaren Eisdecke schwimmen sah.
Meine gefrorenen Nerflinge beachtete er zunächst nicht. Erst als der Silberreiher heranstelzte, stieg er kurz auf. Das hatte zur Folge, dass die Reiher – es waren in der Zwischenzeit noch welche dazu gekommen – laut schreiend davonflogen.
Der Adler griff sich schließlich einen meiner toten Fische, flog damit zu den hohen Bäumen am gegenüberliegenden Ufer und begann ihn dort zu fressen.
Um zwölf Uhr dreißig kamen plötzlich zwei Männer aus dem Wald. Ich saß mittlerweile schon mehr als sechs Stunden bei Minusgraden in meiner Deckung. Als der Adler die Männer erspähte, ließ er den Fisch sofort fallen und strich ab. Eine halbe Stunde später kam er zurück und machte sich im Gestrüpp zu Fuß auf die Suche nach seiner verlorenen Beute.
Um ihn nicht erneut zu stören, blieb ich weiter unbeweglich sitzen, bis er am Ende aus freien Stücken davonflog und nicht mehr wiederkehrte.
Ich hatte es geschafft – trotz ungünstigster Lichtverhältnisse: Auf meinem Film war das vermutlich erste deutliche Foto eines wilden Seeadlers in den Donau-Auen unterhalb von Wien.
Die Begeisterung über dieses großartige Erlebnis hielt noch lange an. Auch weil es mir gelang, trotz steifer Gliedmaßen auf spiegelglatten Waldwegen und Straßen unbeschadet und sturzfrei nach Erdberg zurückzukehren.“